Kennst du das? Der Chef möchte deine Zuarbeit am besten zu gestern. Die Kollegin hat dich schon zweimal nach dem Kuchenrezept gefragt. Dein Partner braucht deine Fähigkeiten am Bügeleisen. Deine Kinder jammern, dass ihr schon ewig keinen Spieleabend mehr gemacht habt. Deine Mutter begrüßt dich am Telefon mit den Worten: „Na, lebste auch noch?“. Deine Freundin fragt, wann ihr euch mal wieder auf einen ausgiebigen Plausch treffen könnt. Dabei fällt dir ein, dass du schon wieder nicht ein einziges Mal in dieser Woche joggen warst und dass du den Salat im Kühlschrank abermals direkt in den Mülleimer werfen kannst. Kennst du solche Situationen auch? Während ich dies hier schreibe, merke ich, wie ich innerlich unruhig werde und sich mein Körper verspannt. Alleine die Vorstellungen an die Erwartungen, die andere an mich herantragen und auch die Erwartungen, die ich an mich selber habe, setzen mich extrem unter Druck und ich spüre den Impuls, zu fliehen. Doch oft genug fliehe ich nicht oder sage nein, sondern füge mich innerlich grummelnd und befolge alle Forderungen artig. Warum ist das so? Warum fällt es mir, und vielleicht auch dir, so schwer, mich zu widersetzen, nein zu sagen und das zu tun, was mir guttut?
„Das Bedürfnis, geliebt zu werden, ist verbreiteter,
als das Bedürfnis, zu lieben.“
Otto Weiß (1849 - 1915), Wiener Musiker und Feuilletonist
Wir alle haben das Bedürfnis nach Bindung, Beziehung, Dazugehören und wir alle versuchen auf verschiedene Weisen, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Der Grund dafür liegt in unserer evolutionären Entwicklung. Wir Menschen sind Herdentiere und benötigen den Schutz und die gegenseitige Hilfe der Gruppe. Vor allem für unsere Fortpflanzung war und ist es unabdingbar, dass wir jemanden finden, welcher bereit ist, mit uns Nachwuchs zu zeugen und auch groß zu ziehen. Vor allem für Babys und Kleinkinder garantiert der Ausstoß aus dem menschlichen Verbund den sicheren Tod. Der Säugling lächelt schon ab der sechsten Lebenswoche, wenn er Mama und Papa wiedererkennt. Durch dieses Lächeln werden bei den Eltern wiederum Beziehungshormone ausgeschüttet, welche die Bindung zum Baby intensivieren. Im weiteren kindlichen Lernprozess beobachtet der Nachwuchs die Erwachsenen ganz genau, imitiert Verhalten oder probiert neue Handlungen aus, immer mit der unbewussten Frage, was sein Verhalten bei den Erwachsenen auslöst. Und alles, was der Bindung dienlich ist, wird dann von den Kindern öfter gezeigt und alles was der Bindung abträglich sein könnte, wird vermieden. So kann es passieren, dass Kinder von gefühlskühlen und distanzierten Eltern sich mehr bemühen, deren Anerkennung und Aufmerksamkeit zu erhalten. Sie werden weniger in die Abgrenzung und mehr in die Anpassung gehen. Und da diese Verhaltensweisen dazu führen, dass sie wenigstens für ein paar Augenblicke Beachtung geschenkt bekommen, werden sie diese Muster auch im Erwachsenenleben weiter beibehalten.
Warum ist es wichtig, dass wir uns abgrenzen?
Jeder Mensch hat seine individuellen Werte und Normen, welchen er oft unbewusst folgt. Für den einen ist es wichtig, pünktlich zu sein, der andere legt mehr Wert darauf, sich in Ruhe fertig machen zu können. Der eine hält es für erstrebenswert, seine Arbeit fehlerfrei zu machen, der andere möchte lieber den Zeitrahmen einhalten. Durch diese unterschiedlichen Überzeugungen geraten wir immer wieder in Konflikte und Meinungsverschiedenheiten. Damit sich jeder treu bleiben und ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Leben führen kann, ist es unabdingbar, dass wir uns von den Erwartungen unserer Mitmenschen hin und wieder lösen, aber auch unsere Erwartungen an andere loslassen können.
„Die Kunst, richtig miteinander zu kommunizieren, ist wie laufen lernen: man fällt so oft auf die Nase, bis man liebevoll an der Hand genommen wird.“
Wilma Eudenbach (*1959), deutsche Publizistin
Die Schwierigkeit liegt meist darin, dass die eigenen Werte und Grundeinstellungen nicht kommuniziert werden. Meist sehen wir nur ein bestimmtes, für uns unverständliches Verhalten und urteilen darüber. Schon mit diesem Urteil tun wir dem anderen oft Unrecht und überschreiten seine Grenzen, denn wir haben keine Ahnung, WARUM er so handelt. Genau so wenig, wie wir wissen, wo unsere Mitmenschen ihre Grenzen haben, wissen die Anderen, wo unsere eigenen Grenzen sind. Dies ist sehr individuell und somit verschieden. Von daher haben wir nur eine Möglichkeit, unsere Grenzen aufzuzeigen: mittels Kommunikation. Wir müssen den Anderen sagen, wo sie zu weit gehen, an welchen Punkten wir nicht bereit sind, ihren Erwartungen zu genügen. Manche Menschen werden immer wieder ein und dieselbe Grenze bei uns überschreiten, obwohl wir ihnen dies schon gefühlte einhundert Mal mitgeteilt haben. Selbstverständlich könnten wir dieser Person nun die komplette Verantwortung für diese Grenzüberschreitung zuschreiben, doch das bringt uns nicht weiter. Wir sollten dafür sorgen, dass diese Person gar keine Möglichkeit mehr hat, diese Grenze immer und immer wieder zu übertreten, indem wir unser Wohlbefinden eigenverantwortlich in die Hand nehmen und vorausschauend unsere Grenzen aufzeigen. Dafür brauchen wir natürlich genaue Vorstellungen, was genau unsere Bedürfnisse und Werte sind, was wir wollen und nicht wollen, um uns wohl zu fühlen. Oft lässt sich das gar nicht so bewusst erkennen und wir merken erst, dass jemand mit seinen Forderungen zu weit gegangen ist, wenn wir schon ja gesagt haben.
„Wer seine Grenzen kennt, ist schon ein halber Weiser.“
John Galsworthy, Nobelpreis für Literatur 1932
Wie erkennen wir unsere Grenzen?
Wir verfügen über ein sehr sensibles Alarmsystem, welches über unser Unterbewusstsein arbeitet: unsere Gefühle. Ein relativ sicheres Zeichen, dass Jemand unsere Grenzen überschritten hat, ist Wut und Frust. Die meisten von uns werden in ihrer Kindheit gelernt haben, dass man nicht artig oder richtig ist, wenn wir wütend reagieren. Von daher unterdrücken viele ihre Wut oder verdrängen sie und schauen weg. Unsere Wut warnt uns vor Missständen und wir sollten genauer hinschauen, wodurch denn unsere Wut ausgelöst wird. In diesem Kontext bedeutet Wut auch nicht gleich Aggression. Wut ist ein Gefühl, welches Kränkung und Verletzung anzeigt. Aggression hingegen möchte den Anderen oder sich selbst verletzen. Wird Wut zu lange unterdrückt, kann sie sich in Aggressionen entladen.
Welche Vorteile hat es, wenn wir uns abgrenzen?
Wenn wir es schaffen, uns unseren eigenen Grenzen bewusst zu machen und diese zu kommunizieren, steigert sich unser Selbstwertgefühl, wir lernen Achtung vor uns selbst und gehen mitfühlend mit uns um. Indem wir uns selbstfürsorglich um unsere Bedürfnisse kümmern, wirken wir geistiger und körperlicher Erschöpfung entgegen. Ein ausgeruhter, ausgeglichener Geist und Körper wiederrum sind leistungsfähiger als ein ermüdeter. Es ist nicht nur unser Recht, uns um unser Wohlbefinden zu kümmern, sondern auch unsere Pflicht.
„Wer seine eigenen Grenzen nicht kennt, findet nur sehr schwer die richtige Distanz zu anderen.“
Ernst Ferstl, österreichischer Lehrer und Dichter
Welche Nachteile hat es, wenn wir uns nicht abgrenzen?
Wenn wir es nicht schaffen, uns abzugrenzen, dann werden die Anderen uns immer wieder ihre Erwartungen und Forderungen überstülpen. Warum sollten sie das auch nicht machen? Sie haben ja keine Ahnung von unserem Frust und sie selbst machen sich ja ihr eigenes Leben leichter, wenn sie ihre Forderungen von uns erfüllt bekommen. Damit nehmen wir ihnen auch die Chance, Eigenverantwortung zu übernehmen. Denke an das Kind, welches frisch ausgezogen aus dem Elternhaus weiterhin seine dreckige Wäsche zum Waschen zur Mutter bringt. Wenn es dieser Mutter nicht gelingt, sich von dieser Aufgabe zu distanzieren, so erhält das Kind nie die Möglichkeit, komplett auf eigenen Beinen zu stehen und muss wohl auch immer in der Nähe der Mutter wohnen bleiben, bis es einen Partner oder eine Partnerin findet, welcher/welche das Waschen übernehmen kann. Das wiederum würde aber bedeutet, dass dieser Mensch weiter abhängig von jemand Anderen sein wird, was sich negativ auf das eigene Selbstbild auswirken könnte.
Wenn wir unsere Grenzen nicht selbst respektieren und sie nach außen aufzeigen, laufen wir ständig Gefahr, uns zu überfordern.
Warum fällt es uns so schwer, uns abzugrenzen?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir einen Blick in unsere Kindheit werfen. Jeder von uns ist unter unterschiedlichen Bedingungen aufgewachsen, keine Kindheit gleicht der anderen. Und doch lassen sich bei manchen Menschen Gemeinsamkeiten feststellen. Um dir dies zu verdeutlichen, habe ich mir einige Redensarten herausgesucht und genauer betrachtet. Ich bin mir sicher, dass dich auch der ein oder andere Satz durch deine Kindheit begleitet hat.
Erst die Arbeit dann das Vergnügen: Hier wurde uns beigebracht, dass alles, was Spaß macht, einen geringeren Wert hat als die Arbeit. Auch wurde uns in diesem Satz suggeriert, dass Arbeit kein Vergnügen ist, also Arbeit sollte immer anstrengend, hart und mühsam sein, sonst ist es eben keine Arbeit.
Geben ist besser als Nehmen. Das Nehmen ruft Schuldgefühle hervor und verdirbt uns die Freude.
Was der kann, kannst du schon lange. Damit wurde uns gezeigt, dass wir uns in einem permanenten Wettbewerb mit anderen Menschen befinden und dass wir diesen Wettbewerb gewinnen sollten. Wir erkennen unsere individuellen Stärken und Schwächen nicht an, sondern setzen uns mit unseren Fähigkeiten alle auf ein gleiches Level.
Du weißt gar nicht, wie gut du es hast. Das impliziert, dass es uns unrechtmäßig gut geht, dass wir diesen Zustand gar nicht verdient haben.
Der Klügere gibt nach. Damit wurde uns verdeutlicht, dass wir Konflikte vermeiden sollen und lieber auf etwas verzichten anstatt darauf zu bestehen.
All diese und noch viele andere typische Aussagen haben uns geprägt. Wir haben sie als Kinder immer und immer wieder gehört und sie haben sich tief in unser Glaubenssystem verwurzelt und werden oftmals nicht mehr hinterfragt beziehungsweise sind uns gar nicht bewusst. Dennoch wirken sie und wir handeln danach. Und somit kann es sein, dass es dir besonders schwer fällt, dich von den Erwartungen der anderen abzugrenzen.
Wie kann ich mich abgrenzen?
Sich erfolgreich abzugrenzen, ist Übungssache. Folgende Schritte kannst du dabei machen:
1. Bewusst machen: schreibe dir regelmäßig die Situationen auf, wo du im Nachhinein sagst, dass du dich da hättest abgrenzen müssen/wollen
2. Schau dir diese Situationen genau an: Was ist passiert? Wer war dabei? Wie habe ich mich gefühlt? Was habe ich in dieser Situation gedacht? Wie ist die Situation ausgegangen?
3. Frage dich, wie die Situation für dich wünschenswert hätte ausgehen sollen? Beschreibe diesen Ausgang so genau wie möglich.
4. Was musst DU tun, damit du deinem Wunschausgang der Situation ein kleines bisschen näherkommst? Konzentriere dich dabei nur auf dich selbst und nicht auf die Frage, wie der andere sich hätte verhalten sollen, denn das Verhalten des anderen kannst du nicht ändern.
5. Schau, ob du in naher Zukunft in eine ähnliche Situation gerätst, wo du das neue Verhalten ausprobieren kannst und verhalten dich dann auch so.
6. Überprüfe, inwieweit dein geändertes Verhalten den Ausgang der Situation verändert hat. Wenn die Veränderung für dich gut ist, behalte das Verhalten bei. Wenn du die Veränderung nicht möchtest, dann forsche nach anderen Verhaltensweisen.
Bedenke bitte bei diesen Schritten, dass sie nicht gleich beim ersten Mal Anwenden erfolgreich sein müssen. Dass du dich nicht abgrenzen kannst, hast du ja auch über viele Jahre geübt. Von daher braucht es jetzt auch ein paar Übungseinheiten, bis du das neue Verhalten automatisch zeigen kannst. Hab Geduld mit dir!
Ich wünsche dir gutes Gelingen beim Abgrenzen und würde mich wahnsinnig freuen, wenn du mir von deinen Erfahrungen damit erzählst!
Ich danke dir, für deine Aufmerksamkeit!
Herzliche Grüße
Wenke Kroschinsky
Psychologische Psychotherapeutin für Verhaltenstherapie
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