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  • wenkekroschinsky

Selbstoptimierung durch Achtsamkeit - der Missbrauch von Achtsamkeit

Der Achtsamkeitshype ist mittlerweile in jeder Ecke Deutschlands angekommen und wer nicht ganz fernab von Facebook und Internet lebt, hat schon davon gehört, dass Achtsamkeit eine wahre Wunderwaffe gegen Stress, depressiver Symptomatik, Angst, Sucht und vieles mehr sein soll. Immer mehr Achtsamkeitskurse und Achtsamkeitsratgeber schwemmen auf den Markt und es ist für den Endverbraucher kaum noch möglich, sich für ein Angebot zu entscheiden. Viel zu groß ist die Auswahl.

Vor allem häufen sich die Versprechungen, mit Hilfe von Achtsamkeit leistungsfähiger und belastbarer zu werden. Das erfreut die Selbstoptimierer. Sie wollen immer mehr Dinge in noch kürzerer Zeit erledigen. Sie wollen nichts verpassen und bei allen Events dabei sein. Sie wollen stressresistent und unfehlbar sein. Sie wollen ihr Tun perfektionieren, um ihren eigenen Erwartungen und den vermeintlichen Erwartungen der anderen gerecht zu werden. Sie möchten Anerkennung für ihre herausragenden Leistungen. Sie möchten im Sport möglichst schnell Bestergebnisse erzielen und geben dafür viel Geld für Fitnessarmbänder und Apps aus. Sie wollen die perfekte Figur haben und quälen sich fast das ganze Jahr mit Diäten.

In der Wirtschaft bedeutet dies widerstandsfähigere Mitarbeiter, weniger Krankschreibungen, mehr Konzentration und Leistung am Arbeitsplatz, mehr Umsatz, mehr Gewinn. Die Führungskräfte sollen mit Hilfe von Achtsamkeitstraining mit mehr Gelassenheit in die x-te Überstunde und somit weg von ihrer Freizeit und ihrer Familie geschickt werden.

Doch dafür steht das Konzept der Achtsamkeit in seiner ursprünglichen Form gar nicht. Es geht gar nicht darum, gelassener mit Stress umgehen zu können. Es geht nicht darum, einen wohligen, entspannten körperlichen Zustand zu erreichen. Es geht nicht darum, sich besser konzentrieren und fokussieren zu können. Es geht auch nicht darum, sich stundenlang mit sich selbst zu beschäftigen, um herauszufinden, wer man wirklich ist.

Bei der Achtsamkeit fokussiert man auf gar nichts. Man lässt seine Gedanken kommen und gehen, hält sie nicht fest, steigert sich nicht in sie hinein. Man verhält sich wertfrei, ordnet nichts in gut oder schlecht, angenehm oder unangenehm ein. Alles, was ist, darf in diesen Momenten sein und gehört genau dorthin, alles hat seine Daseinsberechtigung.



Und was möchte Achtsamkeit nun eigentlich bewirken?


Achtsamkeit möchte Distanz schaffen zu unseren dysfunktionalen Gedanken und unangenehmen Gefühlen, aber sie dabei nicht weg machen wollen. Handlungsimpulse aus dem „Affekt heraus“ sollen erkannt und, wenn sie unangemessen oder gar schädlich sind, umgelenkt werden. Achtsamkeit hilft anzuerkennen, dass es sowohl Glück als auch Leid gibt, neben Freude auch Traurigkeit sein darf. Durch Achtsamkeitsübungen können wir in der Lage sein, unsere eigenen Werte und Wünsche zu erkennen und unser Handeln danach auszurichten. Achtsamkeit soll uns Demut, Bescheidenheit und Distanz lehren und daraus resultierend Verantwortungsbewusstsein, für uns, für unsere Mitmenschen, für unsere Natur.



Demut? Vor was?


Laut Wikipedia bedeutet Demut die realistische Selbsteinschätzung der eigenen Person und Position in der Welt. Ich würde es so ausdrücken: Ich bin einer von vielen und so wie ich bin, bin ich wertvoll. Ich kenne meine eigenen Grenzen und bin mir bewusst, dass ich nicht fehlerfrei bin. Ich kenne die Grenzen der anderen und respektiere sie.

Demütig sein bedeutet auch, sich unterzuordnen, zum Beispiel unter die Gesetze der Natur. Es bedeutet, die Augen nicht vor unserer eigenen Sterblichkeit zu verschließen. Es bedeutet, zu erkennen, dass nichts selbstverständlich ist, weder unsere Gesundheit, noch unser Dach über dem Kopf, unsere Hautfarbe etc. Demut bedeutet, wir können losgelöst von materiellen Werten glücklich sein. Hierbei treffen wir auf die Bescheidenheit.



Wofür soll Bescheidenheit gut sein?


In der Achtsamkeitspraxis erkenne wir alles an, was ist und werden uns bewusst, dass alles da ist, was wir brauchen. Sollte uns dennoch etwas fehlen, dann können wir mit Hilfe der Achtsamkeit unsere Handlungen so ausrichten, dass wir das unerfüllte Bedürfnis in uns befriedigen können. Bescheidenheit stellt ein Wert dar, welcher uns vorgibt, nur das zu nutzen, benutzen und zu verbrauchen, was wir tatsächlich benötigen. In unserer heutigen Zeit nennt man dies Minimalismus.



Und von was sollen wir uns distanzieren?


Dazu möchte ich ein kleines Beispiel anführen, welches Ihnen vielleicht bekannt vorkommt:

Unterm Sternenhimmel erscheinen die eigenen Sorgen klein. Nicht nur das. Das eigene Leben erscheint unbedeutend in Anbetracht der Weite des Universums. Unser Leben dauert im Vergleich zur Existenz unseres Weltalls ein Wimpernschlag, wenn überhaupt. Wir erkennen unter dem weiten Nachthimmel, dass wir uns manchmal selbst und unsere Lage zu ernst nehmen.



Mein Standpunkt dazu:


Die meisten von uns leben im Überfluss, sind aber dennoch unzufrieden. Wir unterliegen dem Zwang, zu konsumieren und uns zu belohnen, lösen damit aber nur weitere Begehren aus. Wir versuchen, mitzuhalten. Wir wollen im Vergleich mit anderen bestehen, wollen zu bestimmten Gruppierungen dazugehören. Etwas sehr Menschliches. Dafür müssen wir immer mehr Stress aushalten. Doch ist das der Sinn von Achtsamkeit? Und ist das der Sinn unseres vergänglichen Lebens? Wäre es nicht nachhaltiger, dass wir über die Sinnhaftigkeit und die Folgen unserer schnelllebigen Zeit nachdenken, anstatt immer mehr Geld verdienen zu wollen, um uns immer mehr Dinge kaufen zu können, die wir eigentlich gar nicht brauchen, die wir mitunter, bevor sie ihren Nutzen getan haben, wegwerfen und uns etwas Neues kaufen, wofür wir dann wiederum noch mehr Geld brauchen? Und gibt es dann nicht immer noch den einen Bekannten, der sich etwas leisten kann (den Mercedes, den Rasenroboter, die Islandreise), was wir uns gerade nicht leisten können?

Auf der anderen Seite wird immer mehr die Individualität und die Selbstverwirklichung betont. Viele erleben sich als losgelöst von der Gemeinschaft, weil sie sich einzigartig fühlen und sich ganz auf ihre individuellen Bedürfnisse konzentrieren. Das ist nichts Negatives, im Gegenteil, trotzdem dürfen wir nicht vergessen, dass wir immer ein Teil der Gesellschaft sind. Sie beeinflusst uns und umgekehrt wir sie. Achtsamkeit kann dazu beitragen, dass wir diese Zusammenhänge erkennen, klarer sehen und diese Erkenntnisse in unserem alltäglichen Leben anwenden. Achtsamkeit kann bewirken, gelassener mit sich selbst und stressigen Situationen umzugehen, doch das ist eher ein „Nebeneffekt“, welcher durch das distanzierte Beobachten eintritt.

Ich selbst praktiziere Achtsamkeit und ich leite Achtsamkeitsübungen an. Am Anfang habe ich auch gedacht, wenn ich Achtsamkeitsprofi bin, kann mich nichts mehr umhauen. Die Kritik vom Chef erschüttert nicht mehr mein Selbstbild, die Andersartigkeit des Kollegen macht mich nicht mehr wütend, abends bin ich nicht mehr so müde und kann noch geduldig mit meinen Kindern ein Spiel spielen, die vielen Aufgaben des Tages überfordern mich nicht mehr usw. Als diese Annehmlichkeiten nicht wirklich eintraten, glaubte ich, Achtsamkeit, sei nix für mich oder ich würde es nicht richtig machen und so habe ich es für eine Weile völlig auf Eis gelegt. Irgendwann packte mich wieder mein Ehrgeiz und ich rollte mein Wissen über Achtsamkeit nochmal neu auf und fing wieder an, Übungen in meinen Alltag einzubauen. Und ich hatte diese unangenehmen Gefühle und diese negativen Gedanken nach wie vor. Doch etwas anderes passierte. Ich verstand, dass es keinen Sinn macht, gegen all dies anzukämpfen. Die Verdrängung, Unterdrückung und Vermeidung kosteten mich so unendlich viel Kraft. Kraft, die ich gerne in andere Dinge investieren wollte. Also fing ich an zu akzeptieren. Zu akzeptieren, dass alles was da ist, genau dort hin gehört, jeder Gedanke, jedes Gefühl, ja auch jeder Mensch in meinem Umfeld. Und mit der Akzeptanz stellte sich nach und nach Gelassenheit ein. Das Wissen, das es in Ordnung ist, dass es mich nicht umbringt, dass ich es aushalten kann. Auch in Beziehungen mit Menschen änderte sich meine innere Haltung. Wo mich früher jemand zutiefst kränken konnte, entsteht jetzt ein Gefühl des gesunden Abgrenzens. Gleichzeitig fühle ich mit dem Anderen mit: Wie groß nur muss sein eigener Schmerz sein, dass er mit so scharfen verbalen Waffen schießen muss? Nach und nach fühlte ich mich ausgeglichener, zufriedener, lernte mehr zu schätzen, was ich habe, anstatt dem hinterher zuhecheln, was ich haben könnte. Für viele mögen sich diese Zeilen zu weltfremd anhören. Leider kann man es niemanden erklären, der es nicht selbst erlebt hat.


Sie haben Lust, Achtsamkeit zu lernen? Perfekt, ich habe einen Online-Achtsamkeitskurs für Sie. Klicken Sie bitte hier und erfahren Sie mehr darüber.


Herzlichst, Wenke Kroschinsky


Sie haben noch Fragen?

Sie möchten mir Ihre eigenen Erfahrungen mit dem Thema Achtsamkeit berichten?

Dann schreiben Sie mir doch! Ich freue mich sehr darauf!




Meine Quellen (Stand 05.08.2019):

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