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  • wenkekroschinsky

Zuhören, einfach nur zuhören

Manchmal berichten mir Menschen von ihren Sorgen und Problemen und ich verstehe sie nicht. Ich kann nicht nachvollziehen, was genau ihnen daran Kummer bereitet, warum sie deswegen so traurig sind, warum es sie so wütend macht oder weshalb sie so angsterfüllt sind. Das, was sie mir da berichten, entzieht sich meinen Erfahrungen und es berührt mich nicht. Natürlich kann ich ihr Leid sehen. Ich sehe ihre Tränen, höre ihre zittrige Stimme, nehme ihre angespannte Körperhaltung wahr, sehe, wie ihre Kiefer aufeinander mahlen. Aber ich kann das Ausmaß ihrer Emotionen nicht begreifen. Ich überlege fieberhaft, wie ich ihnen nur helfen könnte. Wie kann ich jemanden unterstützen, wenn ich nicht mit ihm mitfühlen kann? Wie kann ich einen guten Job machen, wenn ich keine Ahnung von dem habe, was dieser Mensch gerade durchmacht? Um meine Unsicherheit zu verbergen, rutscht mir manchmal ein gut gemeinter Ratschlag heraus. Ich wünsche mir, dass es dem Anderen besser geht und tippe ins Blaue hinein. An seiner Reaktion sehe ich dann, dass ich wirklich gar nichts von seiner Lage kapiert habe. Er schaut mich dann ungläubig an, weiß nichts mit meinem Hinweis anzufangen und ich weiß, ich bin auf dem Holzweg. Meine Unsicherheit überträgt sich auf den anderen und das Gespräch gerät ins Stocken. Es fällt ihm schwer, den Faden wieder aufzunehmen und vielleicht hat er nun auch gar keine Lust mehr, mir seine innersten Turbulenzen mitzuteilen. Der einzige Ausweg, der mir dann bleibt, ist, mich bei ihm für meinen vorschnellen und unangebrachten Rat zu entschuldigen und mir nochmals von Anfang an zu erklären, was ihn bewegt. Ich gebe ihm das Versprechen, aufmerksam zu zuhören. Punkte, die mir fremd sind, zu hinterfragen. Ansonsten ihn ohne Unterbrechung erzählen zu lassen. Und das mache ich dann auch.



„Zuhören bedeutet nicht zwingend, den anderen zu verstehen.

Aber es ist ein guter Anfang.“

Zitat von Sarah Razak



Zuhören, einfach nur zuhören. Das Gefühlschaos mit dem Anderen aushalten. Ihn aushalten. Wie ein Fels in der Brandung bleiben und mich nicht vertreiben lassen. Ich halte still, ich lausche. Ich werfe kein „Aber“ ein und auch kein „Das kann man auch anders sehen.“ Ich beurteile und bewerte nicht, bleibe vorurteilsfrei. Ich halte meine eigene Hilflosigkeit aus. Ich begleite ihn durch seine Not. Bleibe mit ihm an seinem seelischen Abgrund stehen und schaue nicht weg, sondern mitten hinein. Schaue ihn offen und wohlwollend an. Lasse ihm Zeit. Auch zum Schweigen. Warte geduldig, bis er weiter reden kann und möchte. Ich lasse ihn den ganzen vergangenen Dreck durchwühlen, aufwühlen und wenn es sein muss, wühle ich mit. Ich sehe, wie viel Kraft es ihn kostet und so wie die Kraft schwindet, schwindet auch die Intensität seiner Gefühle. Wenigstens für diesen Moment. Ich gebe ihm einen Raum, wo er ungefiltert all das Angestaute raus lassen kann. Wo er Dinge sagen kann, die er vielleicht so noch niemanden gesagt hat. Ich lasse ihn sich emotional nackt machen und schaue nicht beschämt oder genervt weg. Ich schenke ihm all meine Aufmerksamkeit. In dieser Zeit gibt es nur ihn und mich und für uns bleibt die Zeit eine Weile stehen, während sich die Welt da draußen weiter dreht. Ich lasse mich nicht ablenken, schalte meine störenden Gedanken aus, lasse mich nicht erschüttern, lasse ihn nicht seine Würde verlieren. Mein eigenes Selbst tritt in den Hintergrund. Mein Gegenüber hat das Steuer in der Hand und entscheidet, welche Informationen er preisgeben möchte. Ich lasse ihn aus all seine Rollen fallen, wenn er es zu diesem Zeitpunkt benötigt. Ich lasse ihn sich selbst den Spiegel vorhalten. Ich wünsche mir, dass er für all seine Gefühle Worte findet, auch wenn dies recht unwahrscheinlich ist. Ich hoffe, dass er, so wie er die Worte in den Raum lässt, ein bisschen seine Emotionen loslassen kann, sich selbst davon erlösen kann. Ich beobachte ihn, seine Mimik, seine Gestik, seine Körperhaltung. Ich achte auf die Lautstärke und der Melodie seiner Stimme.



„Solange man selbst redet, erfährt man nichts.“

Zitat von Marie von Ebner-Eschenbach



Manchmal ist es das Einzige, was ich tun kann. Zuhören, einfach nur zuhören und da sein, wo kein anderer mehr da sein möchte. Aushalten, was kein anderer aushalten möchte. Schweigen, wo andere schnelle Ratschläge geben. Das Bedürfnis des Anderen, gesehen und gehört zu werden, zu stillen. Denn wollen wir nicht alle von irgendjemanden voll und ganz wahrgenommen werden? Ich vertraue darauf, dass dies in diesem Moment das einzig Richtige ist, was ich tun kann. Manchmal sind das die schwersten Stunden für uns beide. Und manchmal auch die, die eine große Veränderung nach sich ziehen.


Herzlichst, Wenke Kroschinsky

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