Seit einigen Jahren hat die Methode der Achtsamkeit Einzug in die Psychotherapie gehalten und erfreut sich seitdem einer wachsenden Zahl an Praktizierenden. Vor allem auch im Yoga ist Achtsamkeit ein essentieller Bestandteil bei der Ausführung der Übungen. Doch was ist das eigentlich, diese Achtsamkeit?
Die meiste Zeit des Tages ist unser Gehirn damit beschäftigt, entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft zu schauen. Was habe ich heute nicht geschafft? Welche Aufgaben stehen noch an? In den wenigsten Momenten sind unsere Gedanken auf das ausgerichtet, was wir gerade tun. Das erzeugt Stress. Es erzeugt das Gefühl, dass wir nie mit unseren Erledigungen fertig werden, egal, wie effizient und pausenlos wir gearbeitet haben. Unser Gehirn hat immer noch eine Idee, was wir nicht geschafft haben und was wir unbedingt noch machen müssen. Wir fühlen uns unzulänglich, wie in einem Hamsterrad gefangen.
Eine weitere Errungenschaft unseres modernen Lebens ist die permanente Ablenkung: Während des Essens läuft der Fernseher, während des Autofahrens hören wir Radio, beim Kochen checken wir unseren Facebook-Account, während wir telefonieren, erledigen wir noch schnell die Überweisung am Computer, während des Joggens hören wir ein Hörbuch. Oft machen wir zwei oder gar drei Dinge auf einmal. Doch unser Gehirn ist für das Multitasking gar nicht geschaffen. Es kann nicht mehr als 100 % Aufmerksamkeit leisten und wenn wir nun mehrere Dinge gleichzeitig erledigen, so teilen sich diese 100 % eben auch auf die Aufgaben auf.
Selbst in unserer sogenannten Freizeit stehen wir unter Druck. Wir haben so viele Möglichkeiten, uns unterhalten zu lassen, dass es uns oft schwerfällt, sich zu entscheiden. Gehe ich heute ins Kino oder lieber mit dem Partner/der Partnerin essen? Soll ich für meine Freunde einen Grillabend organisieren oder besuche ich lieber das Stadtfest? Das Musical, welches ich mir unbedingt anschauen wollte, läuft nur noch zwei Wochen, aber eigentlich wollte ich auch mal wieder Squash spielen. Ständig müssen wir uns für etwas und somit gegen etwas anderes entscheiden und haben das Gefühl, wir könnten etwas verpassen. Also versuchen wir, alles unter einen Hut zu kriegen. Wenn wir schon um 18 Uhr Essen gehen, dann können wir uns die 20 Uhr Vorstellung im Kino anschauen. Um 22 Uhr ist der Film zu Ende, also könnten wir auch noch zum Stadtfest gehen.
Ein weiterer Stressfaktor ist unser Glaube, ständig erreichbar sein zu müssen. Für den Chef, für die Urlaubsvertretung, für Freunde, für Partner, für Kinder. Unsere Termine, auch unsere Erholungsaktivitäten verdichten und beschleunigen sich. Hier dazu eine kleine Geschichte:
Ein Weiser wurde einmal gefragt, warum er trotz seiner vielen Beschäftigungen immer so gelassen sein könne. Er antwortete:
“Wenn ich stehe, dann stehe ich; wenn ich gehe, dann gehe ich; wenn ich sitze, dann sitze ich; wenn ich esse, dann esse ich; wenn ich spreche, dann spreche ich …“
Da fielen ihm die Fragesteller ins Wort. „Das tun wir auch, aber was machst du noch darüber hinaus?“
Er sagte wiederum: „Wenn ich stehe, dann stehe ich; wenn ich gehe, dann gehe ich; wenn ich sitze, dann sitze ich; wenn ich esse, dann esse ich; wenn ich spreche, dann spreche ich …“
Wieder sagten die Leute: „Das tun wir doch auch.“
Er aber sagte zu ihnen: „Nein, wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon; wenn ihr steht, dann lauft ihr schon; wenn ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel.“
Quelle unbekannt
Bei diesem ganzen Gehetze und Gerenne bleibt eine weitere, wichtige Sache auf der Strecke: die Wahrnehmung unserer körperlichen Signale und unserer Gefühle. Meistens empfinden wir sie als störend und versuchen sie, irgendwie zu verdrängen oder mit pflanzlichen Produkten oder Medikamenten zu unterdrücken. Für einen gewissen Zeitraum funktioniert das ganz gut und wir können weiter funktionieren. Doch bei den meisten, welche diese Alarmglocken ignorieren, stellen sich irgendwann erhebliche Einschränkungen oder gar ernste Erkrankungen ein. Unser Körper und unsere Seele streiken und zwingen uns damit zur Ruhe.
Mit Hilfe von Achtsamkeitsübungen können wir dem eben beschriebenen entgegenwirken.
Doch was ist denn nun diese Achtsamkeit?
Achtsamkeit bedeutet für bestimmte Augenblicke am Tag mit allen Sinnen, die uns zur Verfügung stehen, diesen Augenblick wahrzunehmen. Was sehe ich? Was höre ich? Was spüre ich? Was rieche ich? Was schmecke ich? Wir sind voll bewusst anwesend im Hier und Jetzt, in unserem Körper und auch in unseren Gedanken. Wir werden zu Beobachter derselben. Wir leben im Hier und Jetzt.
Hier (und Jetzt) ein kleines Beispiel:
Stellen Sie sich vor, sie möchten ihr Wasser mit einer frisch gepressten Zitrone trinken. Sie nehmen die Zitrone in die Hand. Sie betrachten sie von allen Seiten. Nehmen die Farbnuancen, die unterschiedlichen Oberflächenstrukturen wahr. Mit ihren Händen spüren sie die glatte Schale, auch die Unebenheiten, die Form der Frucht. Wenn Sie daran riechen, werden sie den unvergleichlichen Duft der Zitrone leicht wahrnehmen. Sie nehmen das Messer zur Hand und halbieren die Zitrone. Sie hören das Durchdringen des Messers durch das Fruchtfleisch. Der Zitronengeruch wird intensiver. Sie sehen die einzelnen Kammern in der Frucht und die unterschiedlichen Farben. Sie spüren Nässe auf ihrer Haut. Sie lecken sich die Finger ab und schmecken den säuerlichen Saft.
Haben Sie so schon einmal eine Zitrone aufgeschnitten und wahrgenommen?
Und was soll das ganze bringen?
Durch die Schärfung der Sinne beanspruchen wir eine erhebliche Kapazität unseres Denkorgans, so dass kaum noch andere Gedanken erscheinen. Und wenn doch sich mal ein störender Gedanke einschleicht, so nehmen wir diesen zur Kenntnis und lenken unsere Aufmerksamkeit zurück auf unser Tun. Unser Gedankenkarussell kann sich beruhigen und damit auch unsere Gefühle und unsere körperlichen Stressreaktionen. Achtsamkeit ist allerdings kein neues Entspannungsverfahren, hat aber nach meiner Erfahrung diesen erholsamen Nebeneffekt.
Doch Achtsamkeit kann noch viel mehr. Je nachdem welche Übungen man durchführt, kann die Achtsamkeit helfen, sich von überschäumenden Gefühlen und selbstzerstörerischen Gedanken zu distanzieren. Wir können uns automatische Handlungsmuster bewusst machen und diese selbstverantwortlich verändern, wenn wir das möchten. Wir können uns für Neues öffnen oder Altes mit neuen Augen sehen. Wir können unsere Effektivität steigern, da wir uns nicht ständig von irgendetwas ablenken lassen. Selbst körperliche Beschwerden können durch Achtsamkeitsübungen gemildert werden, manchmal verschwinden sie sogar komplett.
Was hat das alles mit Spazierengehen zu tun?
Die Natur bietet unserem Gehirn Reize, welche es seit unserer evolutionären Existenz kennt. Die schiere Masse an Bildern aus dem TV, dem Smartphone oder dem Computer ist unser Gehirn auf Dauer nicht gewachsen, es hat Schwierigkeiten, dies alles zu bewerten und zu filtern. In der Natur gibt es im Vergleich dazu nur wenig Reize und wie eben schon gesagt, alt bekannte. Autolärm, Abgasmief und überfüllte Straßen signalisieren unserem Gehirn ständig Gefahren und versetzt es in Alarmbereitschaft. Permanent muss es abschätzen, ob wir unser Leben riskieren. Stresshormone zirkulieren ständig in unserem Blut und befähigen unseren Körper zur Flucht oder zum Kampf. Dies alles muss unser Organismus in der Natur nicht leisten. Unser inneres Alarmsystem kann sich herunterfahren und unser Entspannungssystem wird aktiviert. So wirkt sich ein Aufenthalt im grünen Freien nicht nur beruhigend auf unseren Kopf, sondern auch positiv auf unseren Blutdruck, unserer Herzfrequenz und unserer Atmung aus.
Sauerstoff ist eines unserer Überlebenselexiere. Ohne ihn würde es uns Menschen nicht geben. Jeder kennt den körperlichen Zustand nach einem langen Tag in geschlossenen Räumen. Wir sind müde, atmen flacher und obwohl wir uns nicht körperlich angestrengt haben, fühlen wir uns rundum erschöpft. Ein Spaziergang verhilft unserem Körper zu frischem Sauerstoff und damit zu Wachheit und einer tieferen Atmung. Mittels einer Atemachtsamkeitsübung kann man diesen Effekt sogar noch verstärken.
Das gleichmäßige Gehen an sich hat etwas Meditatives. Einen Fuß vor den anderen setzen, langsam und sich wiederholend, kann uns beruhigen, wie früher, als wir als Kind gewiegt wurden.
Wie alle neuen Verhaltensmuster kann die Fähigkeit der Achtsamkeit durch regelmäßiges Üben stetig verbessert werden. Der Zeitaufwand ist dabei recht gering, da man Achtsamkeit in unterschiedlichen Situationen und bei verschiedenen Tätigkeiten ausführen kann.
Ich hoffe, ich habe in Ihnen eine kleine Lust zum Ausprobieren geweckt. Schreiben Sie mir Ihre Erfahrungen, wenn Sie möchten.
Und wenn Sie sich noch intensiver mit dem Thema Achtsamkeit beschäftigen möchten, dann dürfen sie mich gern kontaktieren. Meine Kontaktdaten und eine Verknüpfung zu meiner Facebookgruppe "Deine tägliche Dosis psychische Gesundheit - Tipps und Hilfe für deine Psyche" finden sie ganz unten.
Das Wissen über Achtsamkeit ist die eine Sache, das bewusste Tun eine Andere...
Ließ mehr in meinem BLOG - Wie ich zur mehr Achtsamkeit kam und ich immer mehr im hier und jetzt lebe.
Herzlichst, Wenke Kroschinsky
Psychologische Psychotherapeutin für Verhaltenstherapie
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