Was tun, bei egoistischem Verhalten?
Diese Frage hat mich in der letzten Woche schwer beschäftigt. Auslöser war folgende Situation:
Im Kaufland an den Kassen 🛒bildete sich eine ungewöhnlich lange Schlange. Falls du den Aufbau der Kaufland-Häuser nicht kennst, möchte ich das kurz beschreiben: Unser Kaufland besitzt 12 Kassen, welche räumlich versetzt angeordnet sind. Ziemlich mittig führt der Hauptgang auf diese Kassen zu.
In diesem Hauptgang bildeten sich zwei parallele Schlangen. Schon länger frage ich mich, warum eigentlich ZWEI Schlangen. Für mich wäre es logischer, wenn sich eine Schlange bildet und sich diese eine Schlange kurz vorm Kassenbereich zu der jeweils nächst freiwerdender Kasse auflöst. Warum? Weil ich von hinten sowieso nicht sehen kann, welche Kassen offen haben. Ich kann auch nicht sehen, an welchen Kassen Menschen mit vollen oder mit leeren Körben stehen und ich kann nicht abschätzen, auf welcher Entfernung sich die Kassen befinden. Mir scheint es auch gerecht, dass alle in einer Schlange stehen und niemand sich ärgern 😡 muss, dass die nicht gewählte Schlange schneller voran rückt. So war und ist meine Logik.
Jedenfalls bildeten die Menschen mal wieder zwei Schlangen und mir erschien das sinnlos. Außerdem wollte ich mich nicht für eine Schlange entscheiden müssen, also stellte ich mich so mittig auf, dass ich quasi aus beiden Schlangen eine Schlange machte. So war mein Plan. Doch ich rechnete nicht damit, dass meine Mitmenschen meine unausgesprochene Logik nicht verstanden und so kam es, wie es kommen musste, es drängelte sich ein Ehepaar an mir vorbei und stellte sich an die Schlange an, die in diesem Moment zwei Meter kürzer war.
Ich würde jetzt lügen, wenn ich sagen würde, dass ich total cool reagiert habe. Nee, das hat mich schon geärgert und diesen Ärger sprach ich auch aus: „Entschuldigung, ich stehe hier auch an und sie haben sich gerade vorgedrängt.“ Naja, ich will euch hier nicht mit dem Dialog langweilen: der Mann wurde lauter, ich auch, er vergriff sich im Ton, ich auch. Ja, da habe ich noch eine Baustelle.
Das Ende vom Lied war: Er blieb auf seinem Posten. Ich erwischte die schnellere Kasse und war eher draußen. Und ja, hier überkam mich die Schadenfreude und ich musste sehr an mich halten, die ihm nicht zu zeigen.
Was macht eigentlich einen Egoisten aus? Werden die immer mehr? Und wie gehe ich mit egoistischem Verhalten um?
Wie können wir egoistisches Verhalten definieren?
Egoistische Menschen stellen ihre eigenen Belange stets über die ihrer Mitmenschen. Egoistische Personen handeln ausschliesslich eigennützig und in ihrem eigenen Interesse, häufig werden sie auch als rücksichtslos wahrgenommen, da ihr Verhalten auf Kosten von anderen Menschen geht. Das Geben und Nehmen scheinen in Beziehungen mit egoistischen Menschen nicht ausgeglichen.
Egoistisches Verhalten kann demnach immer nur in einem Beziehungsgefüge auftreten. Handelt jemand für sich allein ohne soziale Interaktion, gibt es kein egoistisches Verhalten. Also gehören immer mindestens zwei Menschen zum gelebten Egoismus: der, der egoistisch handelt; und der, der das Handeln des anderen als egoistisch empfindet. Hierbei gilt es zu unterscheiden, in welcher Beziehung wir zueinander stehen. Stehen wir eher in einer Wettbewerbsbeziehung 🤼♂️ zueinander, wie zum Beispiel an der Supermarktkasse, so reagieren wir eher egoistisch beziehungsweise empfinden das Verhalten der anderen als egoistisch. Handelt es sich aber eher um eine kooperative Beziehung, so nimmt das eigene egoistische Verhalten ab und wir nehmen das Verhalten der anderen als weniger egoistisch wahr.
Auch kommt Egoismus häufiger in entfernten, anonymen Beziehungen vor wie zum Beispiel in der städtischen Nachbarschaft. Je enger die Beziehung ist, desto weniger verhalten sich die Menschen egoistisch und egoistisches Verhalten wird auch weniger toleriert und eher geahndet.
Empfinden alle Menschen ein bestimmtes Verhalten als egoistisch? In einer Umfrage aus dem Jahr 2019 gaben 73 % der Befragten an, dass sie den Eindruck haben, egoistisches Verhalten habe zugenommen. Doch entspricht das wirklich der Realität? Gibt es messbar mehr Egoismus? Leider muss ich diese Frage mit „Ja“ beantworten. Eine weitere Studie hat ihre Teilnehmer zum Beispiel gefragt: „Nehmen wir in unserer Gesellschaft zu viel Rücksicht?“ und eine bedeutende Menge der Befragten stimmten dieser Aussage zu. Im Umkehrschluss drückten sie damit aus, dass sie es befürworten, dass wir weniger Rücksicht auf Einzelne nehmen sollten.
Hier entsteht nun ein Teufelskreis 🔄: unser Eindruck, dass sich immer mehr Menschen egoistisch verhalten, führt dazu, dass wir selbst uns auch egoistischer aufführen. Denn wer lässt sich schon gerne die Butter vom Brot 🍞 nehmen, immer wieder.
Schauen wir uns jetzt einmal den Trend der letzten Jahre an: Wir haben in der Erziehung, in gesellschaftlichen Kontext aber auch in der psychotherapeutischen Arbeit immer mehr den Fokus auf das eigene Wohlbefinden gelegt. Uns stehen (fast) alle Wege offen. Wir dürfen, ja, wir müssen sogar uns nach unseren eigenen Vorstellungen entwickeln. Von daher verwundert mich diese Entwicklung nicht. Auch ich habe in den letzten Jahren gelernt, Nein zu sagen, mich abzugrenzen, mich und meine Bedürfnisse wichtig zu nehmen und auch immer mal wieder über die der anderen zu stellen. Es scheint so, als ob wir da von dem einen Extrem (=angepasst, rücksichtsvoll und sich selbst vergessend) in das andere Extrem (=egoistisch) gerutscht sind.
Grundsätzlich liegt tief in uns allen, dass grosse Bedürfnis nach Liebe und Bindung. Wir sind soziale Wesen und benötigen die Zuwendung der Anderen 💑. Werden wir als Kind aus der Gemeinschaft ausgestossen, bedeutet dies der sichere Tod. Diese existenzielle Angst haben wir auch noch als Erwachsener. Aus dieser Angst kann sich entweder das selbstlose Verhalten entwickeln: wir dienen den anderen und sichern uns damit unsere Daseinsberechtigung in der Gruppe. Oder wir möchten stets von der Gesellschaft anerkannt und versorgt werden, stellen uns in den Mittelpunkt. Je nachdem, welches Verhalten von unseren Eltern gefördert oder auch extrem unterdrückt wurde, zeigen wir im Erwachsenenalter.
Viele Menschen klagen über Einsamkeit und Anonymitätsempfinden. Mit dem Alleinsein stellt sich auch der Egoismus ein. Sind wir nicht mehr mit anderen Menschen in der Interaktion, üben wir unsere selbstlose Seite nicht mehr, sie verkümmert und zurück bleibt Eigennützigkeit.
Was wir unbedingt auch auf dem Radar haben sollten, wenn wir uns über ein egoistisches Verhalten bei einem Menschen ärgern: JEDER wechselt zwischen selbstlosen und rücksichtslosen Verhalten. Sicherlich ist das Ausmass unserer Verhaltensweisen individuell unterschiedlich. Dennoch solltest du gerne auch mal bei dir selbst schauen, bei welchen Menschen und in welchen Situationen du dich egoistisch verhältst.
Auch situationsabhängige Faktoren verleiten uns zu egoistischem Verhalten. Sind wir im Stress und in Eile, neigen wir dazu, eher an uns selbst und unsere Bedürfnisse zu denken. Auch wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen, legen wir eher ein egoistisches Verhalten an den Tag.
Wie können wir mit egoistischen Verhalten umgehen?
Als oberstes Gebot (aus meiner Sicht): Nimm egoistisches Verhalten NIEMALS persönlich. In den allermeisten Fällen soll das egoistische Verhalten nicht dir schaden. Sondern es dient lediglich dazu, dass sich die egoistisch verhaltende Person einen Vorteil aus einer Situation herauszieht. Dass jemand anderes dabei oft zu Schaden kommt, ist nicht vordergründig gewollt, wird aber billigend in Kauf genommen.
Wir können versuchen, die Perspektive des anderen, also der sich vermeintlich egoistisch verhaltenden Person einzunehmen, indem wir uns fragen, aus welchen Motiven heraus dieser Mensch so handelt.
Möglicherweise hat dieser Mensch schon selbst tausend selbstlose Taten gezeigt und um in seiner Balance aus Selbstlosigkeit und Eigenschutz zu bleiben, verhält er sich gerade in dieser Situation, in der wir beteiligt sind, egoistisch. Vielleicht dürfen wir ihm dieses Verhalten dann sogar zugestehen?
Aus der Beziehungsebene betrachtet können wir dem Egoismus mit Verhandlungen, Kompromissen und dem Verbalisieren der eigenen Bedürfnisse begegnen. Durch Kommunikation können wir eine Balance ⚖ zwischen Geben und Nehmen herstellen. Dabei sollten die üblichen Regeln der Ich-Botschaften 🗣 beachtet werden: Wie fühle ICH mich bei welchem ganz KONKRETEN Verhalten des anderen. Welchen WUNSCH habe ich an den Partner. Vermieden werden sollten Pauschalisierungen wie zum Beispiel „Du verhältst dich immer so rücksichtslos.“; „So was gehört sich nicht.“; „Dir muss doch klar sein, was du mir damit antust.“ In der Regel verhärten solche Sätze die Fronten und das Gegenüber geht in Verteidigungsstellung. Gelingt es uns dann noch, dem Sprechenden aktiv Zuzuhören und das Gesagte nicht als persönliche Kritik aufzunehmen, haben wir einen riesigen Schritt aufeinander zu gemacht.
Nun könnte man glauben, dass wir das Geben und Nehmen wie auf einem Konto gegenseitig aufrechnen und bilanzieren können. Ist es gerecht verteilt, dann sind wir glücklich. So einfach ist das leider nicht. Es wir immer Zeiten geben, da benötigt der eine Partner mehr Zuwendung als der andere. Und es gibt Personen, die per se mehr auf ihre eigenen Bedürfnisse achten müssen, um gesund und glücklich zu sein. Hier geht es also nicht um die absolute Gerechtigkeit, sondern um das Herausfinden, was denn jeder individuell braucht für sein psychisches Wohlbefinden.
Manchmal (aber ich glaube wirklich nur manchmal) könnte es helfen, das egoistische Verhalten des anderen mit voller Liebe und Wertschätzung zu benennen: „Ich sehe, sie haben es gerade wirklich sehr eilig. Gehen Sie gerne vor.“; „Ich spüre, du bist jetzt viel zu müde 🥱, um noch die Geschirrspülmaschine auszuräumen, deswegen übernehme ich das heute für dich.“ Ich denke, zum einen fühlt der Partner sich wirklich in seiner Not gesehen. Dies gibt ihn ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Ohne Vorwürfe wird ihm aber auch klar, dass es jetzt eigentlich seine Aufgabe wäre, die wir für ihn übernehmen. Eventuell löst dies bei ihm ein Gefühl der Dankbarkeit 🙏 aus. Und wer eine dankbare Haltung hat, ist eher bereit zur Hilfsbereitschaft.
Mein Resümee:
Wenn ich mir nun noch einmal meine Auslösesituation anschaue, stelle ich fest:
Vielleicht hatte das Ehepaar einen Folgetermin und waren in Eile.
Vielleicht war es ihnen zu voll und sie wollten schnellst möglich raus.
Vielleicht konnten sie meine Logik einfach nicht sehen.
Vielleicht war meine Logik eben nicht ihre Logik.
Vielleicht haben sie sich sofort von mir angegriffen gefüllt, als ich sie auf das Vordrängen ansprach und mussten zurück schiessen 🏹.
Ich selbst stand unter Druck, da Emma (meine Tochter) in die Schule musste und wir waren spät dran.
Ich selbst war genervt von den vielen Menschen und ich habe mit diesem Ansturm um diese Uhrzeit überhaupt nicht gerechnet.
Ich habe mich ungerecht behandelt gefühlt.
Ich habe in den letzten Monaten (eigentlich Jahren) viel an meiner Abgrenzungsfähigkeit und am Durchsetzen meiner eigenen Bedürfnisse gearbeitet. Vielleicht bin ich selbst dem Egoismus zu nah gekommen. (Puh, was für eine Erkenntnis, die wohl in den nächsten Wochen in mir arbeiten wird. Vielleicht gibt es dann einen weiteren Blogartikel: „Wie gehe ich mit meinem eigenen Egoismus um?“ 😉)
Mit diesem Abstand und meiner Analyse kann ich diesem Ehepaar aus der Ferne das hawaiianische Vergebungsritual Ho`oponopono im Geiste und aus tiefstem Herzen schicken:
Es tut mir leid.
Bitte verzeihen Sie mir.
Ich wertschätze Sie.
Danke.
Herzliche Grüsse
Wenke Kroschinsky
Psychologische Psychotherapeutin für Verhaltenstherapie
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